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REZENSION (ursprünglich erschienen in AmigaGadget Nr.30)

Marillion: "This Strange Engine"

Plattenlabel :Raw Power / Castle Communications
Genre :Melodic-Rock
Spieldauer :70:49 (effektiv 56:49) 
Preis :ca. 30 DM
Interpret :Marillion
Titel :This Strange Engine

Was lange währt, wird endlich gut. Gemäß diesem optimistischem Leitspruch waren die Erwartungen an das schon seit längerer Zeit angekündigte neue Album der britischen Progressiv-Rocker "Marillion" hoch, zumal die Resultate der Soloausflüge der Musiker (Schlagzeuger Ian Mosley und Bassist Pete Trewavas mit "Iris", Sänger Steve Hogarth unter seinem Kürzel "h" und Steve Rothery mit "The Wishing Tree") sehr vielversprechend klangen. Die Frage war nur, wie die Band die doch hörbar unterschiedlichen musikalischen Präferenzen der einzelnen Musiker zu einem stimmigen Gesamtwerk würde verarbeiten können. Seit April wissen wir es - die neue "Marillion"-CD ist erschienen. Und sie trägt den auf den ersten Blick doch eher rätselhaften Titel "This Strange Engine".

Mit den Akkorden einer akustischen Gitarre beginnt "Man Of A Thousand Faces", der Opener der CD. Das zunächst noch recht behutsam daherkommende Stück, das an Joseph Campbells Buch "Hero Of A Thousand Faces" angelehnt ist, gewinnt aber recht schnell an Fahrt. Neben einem mitreißenden Rhythmus, dem Ohrwurmqualitäten nicht abzusprechen sind, und einem exzellenten Keyboard-Solo von Mark Kelly sind noch das bombastische Ende sowie ein kleiner musikalischer Gag zu erwähnen: passend zur Textzeile "Look at my life and it looks like CNN" ertönt ein kurzes "Nachrichtenticker"-Sample. "Man Of A Thousand Faces" läßt den Hörer positiv überrascht, aber auch mit der Befürchtung, "Marillion" könnte möglicherweise auf "This Strange Engine" versuchen, lediglich dem breiten Massengeschmack gefallen zu wollen, zurück.

Dieses Bedenken scheint sich mit dem Beginn von "One Fine Day" bestätigt zu sehen - quält Saitenmagier Steve Rothery seine E-Gitarre doch zu recht wohlklingenden Tönen, die auch in einem "Oasis"-Song angebracht wären. Doch dann entwickelt das Stück einen Charakter, wie ihn nur "Marillion"-Songs besitzen: leicht melodramatisch angehaucht, mit einem Rhythmus zwischen Rock, Jazz und Soul und einer stimmigen Mixtur aus Rotherys E-Gitarre, Hogarths markanter Stimme und Kellys filigranem Tastenspiel. Inhaltlich dreht sich "One Fine Day", das im übrigen auf einem der ersten Texte des "Marillion"-Co-Texters John Helmer basiert, um die Erwartungen, die man in sein Leben setzt, und die Notwendigkeit, etwas zu ihrer Verwirklichung zu unternehmen.

"Oh, how years change the things for which we strive
A better world...or just a quiet life
What seemed so simple
Is still so far away
Don't hold your breath waitin
For one fine day"

Was früher noch Science-Fiction war, ist heute Alltag jeder tourenden Rock-Band. Und so kommt es, daß "Marillion" mit "80 Days", einem Stück über die seltsame Atmosphäre, in die sich Musiker im Rahmen einer Welttournee versetzt sehen, an den Roman "Around The World In 80 Days" von SF-Altmeister Jules Verne anknüpfen. Das Stück wird musikalisch erneut von Rotherys akustischer Gitarre beherrscht und ist mindestens genauso eingängig wie "Man Of A Thousand Faces", was wohl auch der munteren Percussion-Sektion zu verdanken ist.

Einem heiklen Thema wendet sich nun "Estonia" zu. Der Titel entstand nach einem Treffen Hogarths mit dem einzigen Briten, der den Untergang der schwedischen Fähre "Estonia", bei dem insgesamt über 900 Menschen den Tod fanden, überlebt hat. Mit einem sehr emotionalen Text, der trotz aller Leiden eine nicht zu zerstörende Hoffnung verspricht, und einer bis auf den etwas kräftigeren Refrain sehr zurückhaltenden, mit ätherisch schwebenden Halleffekten gedämpften Instrumentierung, ist "Marillion" ein beeindruckendes Denkmal für die Opfer der Katastrophe in der baltischen See, sowie eine künstlerische Anteilnahme am Leid der Hinterbliebenen fern jeglichem Sensationsvoyeurismus gelungen.

"No one leaves you
When you live in their heart and mind
And no one dies
They just move to the other side"

Eine kurze a capella gesungene Passage führt nun in das noch ruhigere "Memory Of Water" ein. Hogarths durchdringender Gesang beherrscht das im folgenden nur von Kellys Synthesizern begleitete Stück, in dem "Marillion" mit dem Motiv des Wassers als Ursprung allen Lebens spielen. "Memory Of Water" ist ein sehr eindringliches, aber auch sehr kurzes Stück, das mit seiner Intensität den Hörer berühren wird.

Weitaus schneller geht es nun bei "An Accidential Man" zu. Ein treibender Gitarrenriff, hymnenhafte Keyboard-Akkorde und fulminante Schlagzeugeinsätze machen dieses Stück um die "frühe Konditionierung durch die Erziehung, Schule, etc." (Mark Kelly) zu einem stimmigen Rock-Song mit besten Live-Qualitäten, dessen stringenter Rhythmus nur durch den etwas zurückhaltenderen Refrain unterbrochen wird. Das alles bedeutet jedoch nicht, daß es nicht auch im "Accidential Man" zahlreiche feine und feinste Nuancen und Überraschungen in der Instrumentierung zu entdecken gibt.

"You ask me if I'm happy
I only wish I knew
'Cause happiness is not something
That I ever learned to do"

Schon recht eigenwillig beginnt nun der nächste Titel, "Hope Of The Future". Eine schnell gezupfte Tonfolge auf der erneut akustischen Gitarre Rotherys begleitet zunächst Hogarths Gesang, um dann einer sehr ausgefallenen Instrumentierung zu weichen. Neben einer munteren Percussion-Begleitung, die an karibische Rhythmen erinnert, erklingt hier auch eine von Paula Savage geblasene Trompete. Das muntere "Hope For The Future" klingt wie eine gewagte Kombination aus den guten Laune-Rhythmen eines Paul McCartney, der Begleitband von "Banana-Boat-Man" Harry Belafonte und einem Sänger Steve Hogarth, der sich hier ein wenig als Rock'n'Roll-Shouter probiert. Das Stück ist sicherlich gewöhnungsbedürftig und wird - ähnlich wie "Cannibal Surf Babe" auf "Afraid Of Sunlight", dem letzten Studioalbum "Marillion"s in Diensten der Plattenfirma EMI - wohl so manchem Freund der Gruppe nicht gefallen. Hat man sich aber erst einmal an die etwas eigentümlichen Rhythmen gewöhnt, vermittelt "Hope For The Future" auch beim Zuhören durchaus den Spaß, den die Musiker vermutlich bei der Aufnahme des Titels hatten.

Das letzte Stück der CD ist der Titeltrack. "This Strange Engine" ist eine autobiographische Auseinandersetzung Hogarths mit den Erfahrungen, Erinnerungen und Erlebnissen seiner Kindheit. Das ist weitaus spannender, als es zunächst scheint - sowohl textlich als auch musikalisch. Die Melodie verhält sich dabei passend zum inhaltlichen Geschehen des Stückes - dramatische Ereignisse werden primär vom treibenden Baß von Pete Trewavas und der E-Gitarre, an der Rothery endlich einmal zeigen kann, daß er nach wie vor zu den besten Rockgitarristen zählt, begleitet, in den emotionaleren Partien dominiert Mark Kellys Synthesizer-, bzw. Piano-Kunst und das präzise gespielten Schlagzeug Mosleys ertönt dementsprechend einmal eindringlicher und voller und das andere Mal zurückhaltender und sanfter. Und über allem schwebt Hogarths omnipräsente Stimme, die er von erstaunlichen Höhen sicher bis in abgründige Tiefen hinabzusenken in der Lage ist. Leider ist dieser absolite Höhepunkt der CD, der auch einen der besten jemals aufgenommenen "Marillion"-Songs darstellen dürfte, bereits nach etwas über 15 Minuten vorbei. "Bereits" deshalb, weil die entsprechende Spur der CD eine Länge von über 30 Minuten aufweist. Doch wer denkt, hier sei der Plattenfirma beim Pressen der Silberscheibe ein peinliches Versehen unterlaufen, sieht sich nach 14 Minuten Stille getäuscht. Das Ende von "This Strange Engine" ist ein ein witziger und würdiger Abschluß eines musikalisch beeindruckenden und vielseitigen Albums.

"There was a boy who came to this world at the hands
of a holy woman in a holy place
He wore a red coat and walked a bulldog - saw them reflected
in the mirror of the lakes"

Und auch das Äußerliche des "Strange Engine"-Albums weicht von den üblichen Erzeugnissen der Musikindustrie ab. So ist etwa die erste Auflage der CD nicht in der üblichen Plastikverpackung erschienen. Vielmehr umschließt ein aufklappbarer Karton die Halterung, in der die mit den Gesichtern der Bandmitglieder bedruckte CompactDisc ruht. Auf dem Cover ist eine seltsame Maschine zu sehen, als deren Antrieb ein die dunkle Umgebung erleuchtendes Herz auszumachen ist. Diese "Strange Engine" durchzieht auch das Booklet - sowohl als große Photographie als auch in Form zahlreicher scheinbarer Planungsskizzen, die auch als Texturen den Hintergrund der Songtexte bedecken. Leider ist hier die Farbwahl ein wenig unglücklich gelungen, so daß man die recht klein gedruckten Texte nur mit Mühe lesen kann. Davon abgesehen ist die Gestaltung der CD jedoch sehr gut gelungen, insbesondere mit der eigenwilligen Verpackung ist "Marillion" ein netter Gag geglückt.

Zur Musik bleibt nicht mehr viel anzumerken. Die Produktionsqualität ist hervorragend, auch feinste Nuancen ertönen klar und differenziert, so daß die CD Hörgenuß in Perfektion bietet. Dazu tragen natürlich in erster Linie die Fähigkeiten der Musiker bei. Alle fünf verstehen nach wie vor ihr Handwerk und Hogarth entwickelt mehr und mehr einen Gesangsstil, der ihm eine schon fast unheimliche akustische Präsenz garantiert. Daß die Musik dennoch nicht zur belanglosen Begleitung verkommt, sondern zusammen mit der Vokalstimme ein atmosphärisch dichtes Ganzes bildet, liegt zum einen sicherlich an der Kraft der Melodien, die sich in genau der richtigen Balance zwischen ausgeklügelten musikalischen Strukturen und packenden Rhythmen bewegen, und zum anderen an der geschickten Instrumentierung, die in ihrer Vielschichtigkeit an beste "Brave"-Tugenden erinnert. Neben den üblichen Instrumenten und Mark Kellys Synthesizern, welche immer für ein weites Spektrum faszinierender Klänge gut sind, kommen so auch eine Balalaika sowie eine Bläsersektion mit Trompete und Saxophon zum Einsatz. Und obwohl schließlich die Texte aus der Feder von Hogarth und John Helmer nach wie vor hinter den chiffrebeladenen, poetischen Meisterwerken aus der "Fish-Ära" zurückbleiben, sind sie doch allemal lesens- und hörenswert, zum Teil herrlich bissig und zum Teil wunderbar wehmütig.

"Marillion" ist also ein brilliantes Album geglückt. Mit "This Strange Engine" knüpfen sie nahtlos an "Brave" an, ohne dieses bisher beste Album der "Hogarth-Ära" zu kopieren. Im Gegensatz zu dessen Nachfolger "Afraid Of Sunlight" findet sich hier kein einziger schwächerer Titel. Und obwohl der dort eingeschlagene Weg hin zu psychedelisch angehauchtem ProgRock ebenfalls recht vielversprechend erschien, wirkt die stilistische Neuorientierung hin zu eingängigen aber dennoch nicht alltäglichen und eindimensionalen Melodien doch ein klein wenig wie ein Befreiungsschlag. Und so nimmt es nicht wunder, daß selbst die in Sachen "Marillion" doch eher skeptischen Musikkritiker des ARD/ZDF-Videotextes "This Strange Engine" für dessen "gelungene und prägnante Melodien" sowie für seine "durchdringende Präsenz" lobten. Wo sie recht haben, haben sie recht.

Andreas Neumann

"Speak to machines with the voice of humanity
Speak to the wise with the voice of insanity
Speak like a leader with the voice of power and command
And when I talk to God I know he'll understand"

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Letzte Änderung: 30. Mai 1997

Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)